Hirnforscher beobachteten, dass sich bei älteren Menschen die neuronale Aktivität von hinteren in vordere Hirnregionen verlagert und beide Gehirnhälften stärker genutzt werden. Der erste Effekt wird als PASA-Effekt bezeichnet (von englisch: Posterior-Anterior Shift in Aging). Die Verschiebung und die Nutzung der beiden Gehirnhälften helfen offenbar, altersbedingte neuronale Einbußen auszugleichen. Aus dem gleichen Grund nutzen Senioren beide Hirnhälften für Aufgaben, die Jüngere in der Regel vornehmlich mittels einer Hemisphäre meistern. Dies scheint eher eine funktionale denn struktuerelle Kompensationsleistung des Gehirns zu sein.
Damit ist allen Ansätzen eine Abfuhr zu erteilen, die meinen, sie können ältere wie jüngere Menschen mit dem gleichen Gehirnjoggingmaßmen die Gedächtnisleistungen trainieren. Wobei an und für sich die Frage der Gedächtnisleistungen bei den vorliegenden Forschungsergebnissen sich überwiegend auf das Sprachgedächtnis als dem deklarativen Gedächtnis beziehen, welches ja nur eines von fünf Gedächtnissen ist. Wie die Kompensation genau von statten geht, muss noch untersucht werden.
Einfache Erklärungen für Gedächtnisleistungen beim Menschen gibt es schon deswegen nicht, weil das prozeduarale und das bewusste Gedächtnis mit ihren fünf Gedächtnisarten zusammenwirken. Die fünf Gedächtnisse sind: Gedächtnis für Fertigkeiten, Aktvitäten und Sprachregeln, Gedächtnis für Perzeption und das Gedächtnis für Priming (= Prozeduale Gedächtnis); Zum Bewussten Gedächtnis gehören das Gedächtnis für Fakten und Wissen sowie das episodische und autobiografische Gedächtnis.
Aber wofür steht das PASA-Muster? Die Ergebnisse verschiedener Studien zeigten, dass es sich dabei um eine Kompensation handelt: Bestimmte Hirnregionen werden zusätzlich aktiviert, um die geringere Leistungsfähigkeit in Bezug auf das Gedächtnis, die Konzentration und die Koordination von Denken und Handeln möglichst gut zu kompensieren.
Studien konnten nachweisen, dass das PASA-Muster bei älteren Menschen, die kognitive Testaufgaben im Scanner bearbeiteten, umso deutlicher zu sehen war, je besser ihre Leistungen waren. Man könnte sagen, dass die vorderen Hirnregionen am stärksten von den Auswirkungen des Alterungsprozesses auf Struktur und Funktion des Hirngewebes betroffen sind, alles an Kräften und Anstrengungen aufbieten müssen, um gute Leistungen zu erzielen.
Ein anderes bei Senioren häufig zu beobachtendes Muster stellt die Verringerung der Asymmetrie der Hirnaktivität dar. Unter Asymmetrie ist die unterschiedlich starke Aktivität der beiden Gehirnhälften zu verstehen. Handelt es sich beim gleichmäßigen Einsatz beider Gehirnhälften ebenfalls um eine Kompensation oder um einen allgemein auftretenden Effekt des Alterungsprozesses?
Die Forschungsergebnisse weisen auf eine Kompensation hin: Ältere Menschen, die keine Verschiebung zu einer gleichmäßigeren Aktivität beider Gehirnhälften erkennen lassen, erzielen beispielsweise bei Gedächtnisaufgaben schlechtere Ergebnisse als Ältere, deren Gehirn eine verringerte Asymmetrie zeigt.
Wie diese Kompensation genau vonstattengeht, muss noch eingehender untersucht werden. Es ist gut möglich, dass es sich dabei um eine Reorganisation neuronaler Netze handelt: um Hirnregionen, die in einer veränderten Kombination besser zusammenarbeiten.
Wie lässt sich dann erklären, dass einige Senioren kognitiv weiterhin wesentlich leistungsfähiger sind als andere?
Hier haben Gehirnforscher eine Hirnreserve-Hypothese entwickelt. Sie besagt, dass unser Gehirn eine bestimmte Reservekapazität hat, die auf Grund von genetischen und Umweltfaktoren von Mensch zu Mensch variiert. Wie müssen wir uns diese Reservekapazität vorstellen? Sie hat zwei Seiten: die strukturelle und die funktionale Kapazität. Die strukturelle Kapazität steht mit der Menge an intaktem Hirngewebe und den Verbindungen zwischen den Hirnregionen (mit der Hirnstruktur) in Zusammenhang. Die funktionale Kapazität ist Leistungsfähigkeit der Hirnregionen (der Hirnaktivität).
Handelt es sich bei älteren Menschen, die kognitiv noch gute Leistungen erzielen, um Menschen mit einer funktionalen Reservekapazität? Zweifellos, denn die höhere Aktivität der frontalen Hirnregionen (der PASA-Effekt) und die stärkere Nutzung beider Gehirnhälften weisen eher auf eine funktionale Kapazität. Das Problem dieser Hypothese ist, dass beide Funktionalitäten ineinander greifen und daher erscheint mir die Hypothese eher fraglich zu sein für die praktische Umsetzung z.B. wenn es um die Erklärung von unterschiedlichen kognitiven Leistungen geht. Hier scheinen mir die Befunde der Neuroplastizität und die Vorschläge von Prof. Manfred Spitzer plausbiler, der das Musiezieren, die dynamischen sozialen Beziehungen, viel Bewegung und eine gute Ernäherung als die Bausteine empfiehlt, das Gehirn auch noch um hohen Alter fit zu halten.
Für die strukturelle Reservekapazität gilt: Ein unbeschädigter Hippocampus wird sicherlich zu ihrer Steigerung beitragen, hingegen werden Eiweißablagerungen, die sich beim Alterungsprozess bilden können, die Kapazität verringern. Auch das Wachstum neuer Neuronen, die Neurogenese, stellt ein wichtiges Element der strukturellen Reservekapazität dar. Hier sieht man, wie unscharf die o.g. Hypothese ist.
Quelle: André Aleman: Wenn das Gehirn älter wird CH Beck, München 2013
Holen Sie sich jetzt den kostenlosen Newsletter der Neurowissenschaft. Er erscheint monatlich und infomiert Sie z.B. über folgende Themen:
- Wie entstehen nachhaltige Lernprozesse?
- Was macht charismatische Führungskräfte aus?
- Woran erkennen Sie Psychopathen im Chefsessel?
- Welche Bedeutung spielen die Empathieneuronen für Führung und Zusammenarbeit?
- Warum macht Stress dumm?
- Wie entstehen Spitzenleistungen im Gehirn?
- Was passiert bei Menschen im Gehirn, wenn es um Veränderungen geht?
- Wie kann ich neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die Personalauswahl und Personalentwicklung nutzen?
- u.v.a.m.